"Ich habe mir ein fremdes Grab „angeeignet“. Es ist verwildert, niemand kümmert sich seit mindestens zwei Jahren darum. Warum nicht? Ist niemand mehr da oder kann ein Jemand nicht mehr kommen? Es gibt viele solcher Gräber auf vielen Friedhöfen. Die Disteln stehen mit mir auf Augenhöhe. Kräftige Brombeerzweige haben sich kreuz und quer über den ausgeuferten Erikabusch verbreitet. Brennnesseln, Erdbeeren und viele andere kleinere und größere Gewächse wuchern um die Wette. Ein befreundeter Biologe macht mir eine Bestandsaufnahme, bevor ich zum ersten Mal Hand anlege."
… (Auszug aus dem Text)
Während der 18-monatigen Grabpflege habe ich die Pflanzen, die zu Beginn dort wild wucherten (Riesendisteln, Brombeeren etc.) behutsam entfernt, ohne die eigentliche Struktur der Bepflanzung grundlegend zu verändern. Den Stein von Algen und Moos befreit, die Grabumrandung frei gelegt, hin und wieder frische Blumen gebracht und Allerheiligen und Weihnachten „jahreszeitlich“ geschmückt. In einem Projekttagebuch wurden alle Schritte festgehalten und fotografisch dokumentiert.
In dieser Zeit entstanden viele kurze und sehr persönliche Texte über die Austauschbarkeit von Erinnerungen, Stereotypen menschlicher Lebensstationen, Deutungsversuche der biografischen Lebensdaten in bezug zu ihren historischen Kontexten.
Ich habe mir diese „Familie“ in unterschiedlichsten Zusammenhängen vorgestellt, Gründe für den frühen Tod des Sohnes gesucht, das Nichterscheinen der Mutter auf dem für sie vorgesehenen Kreuz – eine Leerstelle, die mich zu einem Wechsel-spiel mit diversen Realitäten angeregt hat. In Wahrheit hatte ich keinerlei Informationen außer den Lebens- und Sterbedaten von Vater und Sohn. Der Sohn wurde nur 17, der Vater 73.
TROST - Ausstellung in Kassel mit Lesung und Diaprojektion 2023 vom 01.April – 17.September 2023, im Musem für Sepulkralkultur, Kassel.
Aus der Aneignung wurde eine Anverwandlung, die fremde Grabstätte entwickelte sich durch die regelmäßigen ritualisierten Handlungen zu einem Teil meiner eigenen Biographie. Die intensiven Reflexionen führten zur Parallelisierung mit persönlichen familiären Erfahrungen, das Projekt wurde zu einer Entdeckung meines eigenen Umgangs mit Leben und Tod.
Aus all dem entstand unter einfühlsamer Mitarbeit der Graphikerin Ines Braun das Buch „Unvergessen“. Am Tag seiner Erstveröffentlichung in Köln, dem 22.2.22, wäre der Familienvater Heinz Rausch, der dort beerdigt liegt, 100 Jahre alt geworden.
70 Seiten, DinA4-Querformat, Hardcover im Selbstverlag, 30 € (inkl. Versand), nur bei mir erhältlich: christiane(at)rath-art.de